Bütowersche Vertellkes. Gesammelt und erzählt von Hans-Joachim Heß © 1983-2001
Frankenberg 1983, S. 13-14


Der stärkste Mann von Bütow

Schon bald nach der Gründung Bütows im Jahre 1346 blühten Handel und Gewerbe auf, und die Zünfte der einzelnen Handwerksgilden nahmen einen breiten Raum im gesellschaftlichen Leben der Stadt ein. Der ehrbare Meister galt noch etwas und der wackere Zunftgeselle nicht minder. Alles lief in geordneten Bahnen und jeder, ob groß oder klein, hatte seinen festen Platz in der Gesellschaft. Harte Arbeit einerseits, Beschaulichkeit und frohe Feste andererseits prägten den Bütower Menschen und drückten ihm über die Jahrhunderte hinweg den Stempel auf, bis die gewaltsame Vertreibung dieser Idylle ein jähes Ende bereitete. Man traf sich nach getaner Arbeit zum Dämmerschoppen, spielte einige Runden Skat oder auch Schafskopf, und dabei wurde dann das Neueste vom Tage erzählt oder auch Altes immer wieder gern aufgewärmt.

Auf diese Art und Manier pflegten nun auch zwei Bütower Fleischermeister ihren Feierabend zu verbringen. Beide hatten ein stattliches Gardemaß, die dazugehörige Schulterbreite, zwei Fäuste, die unter gewissen Umständen wie Dampfhämmer wirken konnten, und beide waren sich ihrer weit überdurchschnittlichen Körperkräfte durchaus bewußt.

Nach dem Genuß einiger Körner, doppelstöckige, versteht sich, gab der eine seinem Selbstbewußtsein immer dadurch Ausdruck, daß er laut und vernehmlich feststellte: "Der stärkste Mann von Bütow bin ich!" Darauf erwiderte der andere stets: "Nach mich, Hanschen, nach mich!" Noch ein Korn und noch ein Bier, und wieder war's im ganzen Lokal zu hören: "Der stärkste Mann von Bütow bin ich!" "Nach mich, Hanschen, nach mich!" Wie oft diese wechselseitigen Feststellungen nun getroffen wurden, läßt sich heute nicht mehr feststellen, aber alles verlief immer harmonisch und friedlich.

Nach dein letzten: "Nach mich, Hanschen, nach mich", trank man das jetzt schon etwas abgestandene Bier aus und ging gemeinsam, jeder mit gestärktem Selbstbewußtsein, nach Hause.

Ob nun bei dein letzten Dämmerschoppen einige Körner zuviel getrunken wurden oder ein gehässiges, den anderen abwertendes Wort gefallen war, ist nicht überliefert. Jedenfalls schwollen unseren beiden Fleischermeistern derart die Kämme, daß sie nun endlich und handgreiflich festzustellen versuchten, wer tatsächlich der stärkste Mann von Bütow war. Das Duell fand in der Seitenstraße neben dem Kaffee statt und da m einer Kleinstadt nichts verborgen bleibt, machte diese Nachricht am nächsten Tag in der Mittelschule bei Rektor Meyer die Runde. Es sollte sogar noch Blut auf dem Kopfsteinpflaster zu sehen sein, und der eine sollte dem anderen ein Ohr abgebissen haben.

Also in der Pause nichts wie hin! Das Blut war tatsächlich noch zu sehen, aber das abgerissene Ohr konnte auch unser durch das Lesen von Rolf Torrings und Tom Sharks Abenteuern geschärfte Auge nicht entdecken. Vielleicht hatte es sich auch schon Jankowskis Kater einverleibt, wir konnten es nicht feststellen. Das Ohr war weg und blieb weg. Gott sei Dank, von uns gehörte es keinem, unsere Ohren waren noch dran, und die Pauker konnten sie uns wieder lang ziehen. Ende der Vorstellung, für uns war der Fall erledigt.

Nicht aber für den jetzt einohrigen Fleischermeister. Der wollte sein Ohr wiederhaben, was man ja auch durchaus verstehen kann, und verklagte seinen Berufskollegen beim Bütower Amtsgericht, er habe ihm das Ohr abgebissen.

Von dem einst so prächtig und kräftig ausgebildeten "Löffel" war in der Tat nur ein kleiner Teil des Ohrläppchens übriggeblieben. So sehr der Amtsrichter sich auch bemühte, die Vorgänge zu rekonstruieren und Licht in das Dunkel dieser kannibalischen Angelegenheit zu bringen, das Ohr war und blieb unauffindbar.

Auch der Beklagte konnte nur wenig zur Wahrheitsfindung beitragen. Was er auch immer vorbrachte, es konnte nicht überzeugen. Auch ein Fleischerohr bricht nicht so mir nichts, dir nichts ab und bleibt dann für immer verschwunden.

Da trug unser kannibalischer Handlungen verdächtigte Meister gleich einem Trompetensignal sein letztes Argument vor: "Hohes Gericht, wie jedes Kind in Bütow weiß, habe ich eine große Fleischerei. Da ist Fleisch und Wurst genug, ich brauch nicht dem sein dreckiges, ungewaschenes Ohr aufzufressen!"

Dieser Argumentation konnte sich auch der Bütower Amtsrichter nicht verschließen, und die Verhandlung wurde geschlossen.

Damit war zwar wieder Ruhe in der Fleischerinnung eingekehrt; wo aber das Ohr geblieben war und vor allen Dingen, wer der stärkste Mann von Bütow war, konnte bis heute nicht geklärt werden.
 


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