Bütowersche Vertellkes. Gesammelt und erzählt von Hans-Joachim Heß © 1983-2001
Frankenberg 1983, S. 14-18


Sie nannten ihn Kohnchen

Ob autoritäre oder antiautoritäre Erziehung, schon immer hatten die Schulmeister mit den "Rüpeln", und die waren in der Klasse stets in der Mehrzahl, ihre liebe Not. Viele schlaue Bücher sind im Laufe der Zeit von noch schlaueren Menschen geschrieben worden, die Praxis aber sah und sieht noch heute in vielen Fällen ganz anders aus. Die Generationen kamen und gingen, die Streiche in den Schulen aber, die in fast allen Fällen die Lehrer zur Zielscheibe hatten, blieben. Sie sind heute kaum anders als vor 50 Jahren.

Also, ihr heben Jungen und Mädchen von heute, wenn es auch bei den Erwachsenen manches nicht mehr gibt, weil manches eben nicht mehr sein darf, so waren sie in ihrer Schulzeit gewiß auch keine Engel und hatten auch sehr oft reichlich "Dreck am Stecken". Das Risiko, geschnappt und verdroschen zu werden, ist uralt, lediglich die Art der Bestrafung hat sich geändert. Aber was wäre auch schon ein guter Schulstreich wert, wenn nicht dieses Kribbeln da wäre?

Als Schüler wartet man ja direkt auf irgendeine Blöße des Lehrers und eben auf dieses Kribbeln, dieses Abenteuer.

Eine nicht alltägliche Sprechweise, eine geringfügige Nachlässigkeit in der Kleidung, übertriebene Korrektheit andererseits, irgendeine Pedanterie, Körpergröße und Haltung, all das kann der Auslöser für dauernde Provokationen seitens der Zöglinge sein.

Gewiß verhält sich der Verstand eines Menschen nicht direkt proportional zu seiner Körpergröße. Es kommt im Gegenteil sogar häufig vor, daß die oberen Stockwerke schlecht möbliert sind, während die kleinsten Häuser die größten Türen haben.

Menschen mit Gardemaß aber sowie reichlich kurz geratene sollten besser nicht Pauker werden. Sie ersparen sich viel Ärger.

In den zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre war nun bei uns in Bütow ein Mann um die Weiterbildung unserer Jugend bemüht, bei dem, was die Körpergröße anbelangte, auch die Zutaten nicht ausgereicht hatten. Sein Künstlername war ihm somit gleich in die Wiege gelegt worden. Jeder kennt doch den sprichwörtlichen "kleinen Kohn", und eben nach diesem "kleinen Kohn" erhielt er auf Grund seiner Größe den Spitznamen "Kohnchen". Diese Bezeichnung bürgerte sich derart ein, daß es Bütower gegeben haben soll, die seinen Familiennamen gar nicht kannten und immer nur von dem kleinen Pauker "Kohnchen" sprachen.

Dieses kleine, sehr temperamentvolle Kerlchen bot nun seinen Schülern aber auch Angriffspunkte in großen Mengen. Da war erstmal sein Minimaß, dann die stets gedrechselte, etwas verschrobene Ausdrucksweise, wie man sie bei uns überhaupt nicht kannte und drittens sein zunächst forsches Auftreten, dem aber stets eine tiefe Ratlosigkeit folgte. Wenn er, nachdem er das Klassenzimmer betreten hatte, sich durch mehrmaliges "Ruhe" rufen, wobei er das "e" in Ruhe besonders betonte, Respekt zu verschaffen suchte, was in den seltensten Fällen gelang, so sprang er zunächst umher wie Rumpelstilzchen und trommelte mit der Faust auf dem Klassenbuch herum. Das hätte er zumindest im Wonnemonat Mai nicht tun sollen, denn zu dieser Zeit hatte unter dem Klassenbuchdeckel oftmals ein Maikäfer Zuflucht gesucht, und den hatte Kohnchen dann zu Brei geschlagen. "Herr Lehrer, unser schönes Klassenbuch, was soll jetzt damit werden?" So oder ähnlich schallte es dem Unglücksraben von den Bänken entgegen. Ratlos stand Kohnchen vor dein Scherbenhaufen und wäre nicht auf den Gedanken gekommen, daß der Maikäfer bereits als Leiche von den bösen Buben dort deponiert wurde. Als sich die Gemüter endlich beruhigt hatten und nach mehrmaligem "Ruhe" rufen auch Ruhe eingekehrt war, konnte der Unterricht beginnen.

Es dauerte aber nicht lange, da hob ein Schüler die Hand, und Kohnchen herrschte ihn an: "Was will er?" "Er muß dringend austreten," kam es zurück. "Geh er!" Nach diesem Freifahrtschein beeilte sich der angeblich in Nöten befindliche Schüler, die Klasse zu verlassen. Nach kurzer Zeit wollte ein zweiter Schüler, mit einem Blatt des Bütower Anzeigers bewaffnet, auch eiligst den Raum verlassen. "Halt, wo will er hin?" fuhr Kohnchen ihn an. "Herr Lehrer, er hat das Papier vergessen und ist jetzt im Druck." "Geh er!" So, die beiden waren weg, die sah der Kurze bis zum Pausenzeichen nicht mehr wieder. Auch ein dritter, der nachsehen sollte, wo die beiden ersten geblieben waren, zog es vor, dem Unterricht fernzubleiben.

In der folgenden Pause hatte Kohnchen Aufsicht auf dem Schulhof. Das heißt, er hatte dafür zu sorgen, daß die Schüler gesittet auf- und abgingen. Doch was war das? Die kleine Aufsicht hatte sich einen neuen Hut zugelegt. Schon etwas, was unbedingt Beachtung verdiente! Aber da hinten war doch noch etwas dran? Es war der Preis, der den Wert der Kopfbedeckung mit 10,50 RM angab. Daraus wurde rasch 1,50 RM gemacht, und schon schallte es über den ganzen Schulhof: "Oh, eine neue Dohle, oh, der Neue, der Gute für 1,50 RM." Da diese Feststellungen lautstark, dauernd wiederholt und in mehreren Varianten über den Platz gerufen wurden, so daß schon Passanten auf der Straße stehenblieben, benutzte Kohnchen das stille Örtchen als eine letzte Zuflucht.

Diese besinnliche Stätte war aber mit einer 2,00 m hohen Bretterwand von der übrigen Bedürfnisanstalt getrennt und bot nur einen recht unzureichenden Schutz gegen die andrängende Meute. Man klopfte gegen die Bretter und rief: "Herr Lehrer, wie sind die Arbeiten ausgefallen?"

"Habe jetzt keine Sprechstunde", kam es zurück, und ein ganz kesser Bruder rollte rasch einen Schneeball zusammen und warf ihn über die Bretterwand auf die "neue Dohle". Kohnchen mußte daraufhin seine Sitzung beenden, denn der tauende Schnee machte die Benutzung der einfachen Brille für die nächsten Stunden unmöglich. Wer kann es da einem Schulmeister verdenken, wenn er den ganzen Arger mit der Rasselbande am Wochenende mit einigen Körnchen runterspült und nach dem x-ten Korn beschließt, die nächste Woche mit gestärktem Selbstbewußtsein zu beginnen? Auch unser Kohnchen war öfter bestrebt, auf diese Art und Manier seine geschwundene Selbstachtung aufzupolieren, aber die Nachwirkungen die bösen Nachwirkungen!! Sie machten ihm schwer zu schaffen. Der fürchterliche Brummschädel und die bleierne Müdigkeit in Haupt und Gliedern ließen unsere schwer geprüften Pädagogen ins Bett sinken, von dein er sich dann nur sehr schwer erheben konnte. Es konnte dann schon passieren, daß Kohnchen am Montag zur ersten Stunde noch nicht recht vernehmungsfähig war. So hatte er einmal laut Stundenplan die Woche mit Religion in der Quarta zu beginnen. Es schellte, und wer nicht erschien, war der Herr Lehrer. Die pfiffigen Quartaner kannten ihren Klassenlehrer und wußten, wo er zu finden war. Man verhielt sich in der Klasse vorbildlich ruhig und gönnte auch dem hart angeschlagenen Kohnchen noch für eine gewisse Zeit den erholsamen Schlaf. Kurz vor Ablauf der ersten Unterrichtsstunde aber machte sich eine Schülerabordnung auf den Weg zu ihrem Erzieher. Sie schellten, machten ein besorgtes Gesicht und überbrachten dem noch Schlaftrunkenen folgende angebliche Nachfrage der Schulleitung: "Herr Lehrer, der Herr Rektor läßt fragen, ob Sie ernstlich erkrankt wären?

Kohnchen blieb jetzt nicht mehr viel Zeit. Rasch notdürftig rasieren, anziehen, ein Schluck Kaffee und im Dauerlauf zur Penne war das Werk von wenigen Minuten. Hier angekommen, stürmte der Ärmste rauf ins Rektorzimmer und trug seine an den Haaren herbeigezogene Entschuldigung vor. Darauf antwortete dann der sehr humorvolle Rektor: "Ach, Herr Kollege, ich hatte Sie doch noch gar nicht vermißt". Damit war dann das bei Korn und Bier gewonnene Selbstvertrauen wieder total im Eimer.

Aber auch in einer Religionsstunde selbst war Kohnchen vor den Anschlägen der Meute, wie er die manchmal recht derben Scherze der Schüler zu nennen pflegte, nicht sicher. An den Bütower Schulen waren, was den Religionsunterricht anbelangte, beide großen christlichen Konfessionen vertreten und darauf mußte bei der Erstellung des Stundenplanes Rücksicht genommen werden.

Das hieß für uns im Klartext, wenn die Evangelischen Religion hatten, hatten die Katholiken eine Freistunde, und eine dieser Freistunden unserer katholischen Mitschüler sollte es in sich haben.

In der Untertertia stand ein leerer Kartenschrank und auf diesem Schrank ein alter ausgestopfter Kranich, der nur noch aus Federn und Staub bestand. Da die Schule mit Anschauungsmaterial für den Biologieunterricht ohnehin und zum Leidwesen der Schüler nicht reichlich gesegnet war, machte man sich allerseits - und dies nicht erst seit gestern - Gedanken, wie diesem Übelstand abzuhelfen wäre. Da hatten unsere Untertertianer eine fixe Idee, die, wie wir heute sagen wurden, sich sehr knapp am Rande des gerade noch Erlaubten bewegte.

Die alte verstaubte Vogelscheuche mußte weg, und ein neuer Kranich mußte her. Was war zu tun? Zur Zeit der evangelischen Religionsstunde wurde ein katholischer Schiller, der ja jetzt eine Freistunde hatte, in den Schrank gesperrt - mit seinem Einverständnis natürlich.

Wenn nun Kohnchen wieder gleich Rumpelstilzchen von einem Bein auf das andere hüpfte, sollte der Pipiorke, so hieß der Schüler im Schrank, das Stuck Möbel mitsamt dem Kranich zum Wackeln bringen, und so geschah es auch. Kohnchen führte seine gewohnten Sprünge aus, und Pipiorke versetzte den Schrank in bedenkliche Schwingungen. Der alte Kranich machte diese Bewegung zunächst mit, doch bei einem besonders starken Temperamentsausbruch unseres Minipaukers verlor er mit Nachhilfe von Pipiorke das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ein Haufen Federn, eine Staubwolke, und der Kranich war gewesen! Für dieses vorausberechnete Unglück machten die Schüler nun lautstark ihren Klassenlehrer verantwortlich. Nur er und kein anderer als er hatte den Kranich auf dein Gewissen und hatte für den Verlust aufzukommen. Wer den neuen Kranich nun tatsächlich bezahlt hat, konnte von uns niemals festgestellt werden.

War es Kohnchen oder war es die Schulbehörde? Wir wissen es nicht. Fest steht aber, ohne diese Aktion der Untertertia hätten die Schüler wohl noch sehr lange auf einen neuen Kranich warten müssen.


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