Damals im Kreis Bütow. Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg © 1991-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
Wiederabdruck in: Georg Sonnenburg, "Damals im Kreis Bütow" Frankenberg 1991, S. 124-129


Das Geschenk des lieben Gottes

Der Winter 1946/47 hatte früh angefangen und er zeigte sich von seiner härtesten Seite. Schon lange vor Weihnachten ließen Minustemperaturen Flüsse und Seen unter einer dicken Eisdecke erstarren, und als der Schneefall einsetzte, da wollte es gar nicht mehr aufhören zu schneien. Schlimm setzte dieser Winter, für die meisten Pommern der letzte in ihrer Heimat, auch den Menschen zu, die längst ihre ganze Habe eingebüßt hatten und die täglich neu ums Überleben kämpfen mußten. Viele waren schon aus ihren Wohnungen gejagt worden und fristeten ein geduldetes Dasein bei Freunden und Bekannten, die gleichfalls kaum noch das Sattessen hatten.

Und jetzt stand Weihnachten vor der Tür. Weihnachten, das Fest der Familie, das Fest der Liebe und der Zuneigung auch für andere Menschen. Wie anders war dieses stille Fest noch vor zwei Jahren verlaufen, als zwar allerorten auch schon Bangigkeit und Angst vor der Zukunft eingekehrt waren, doch alles noch in geordneten, gewohnten Bahnen verlaufen war. Diese letzte Weihnacht in der Heimat erlaubte den meisten nicht einmal mehr die Teilnahme an einem deutschen Gottesdienst, weil sich überall schon Polen niedergelassen hatten. In Grünenwalde am Jassener See, der längst unter einer dicken Schneedecke versunken war, lebte damals eine junge Frau, die die Wirren des Krieges von Stettin mit ihren vier Kindern dorthin vertrieben hatten. Ein Junge war übrigens in Grünenwalde zur Welt gekommen, wo damals keiner ahnte, daß er der letzte dort geborene Deutsche sein würde.

War das Leben für die deutschen Menschen damals so schon hart und entbehrungsreich genug, um wieviel mehr dann erst für eine Mutter mit fünf Kindern, deren Mann irgendwo als Soldat im Osten vermißt wurde. Herta arbeitete für die Försterei Ziethensee im Wald, eine Tätigkeit, die ihr als einer Großstadtfrau gewiß nicht leicht fiel, und ihre älteste Tochter, die achtjährige Christa nahm zu Hause die Pflichten der Hausfrau und Mutter wahr. Am Vorabend des Heiligabends hatte Herta, wenngleich auch todmüde erst spät durch den tiefen Schnee nach Hause gekommen, ihren Kindern, die sie, wie alle Abende, schon voller Sehnsucht erwarteten, beim Schein der auf Sparflamme brennenden Petroleumlampe vorgelesen. Bei Peter Roseggers Geschichte "Als ich Christtagsfreuden holen ging".. aus dem "Lesebuch für Volksschulen in Pommern" hatten die vierjährige Bärbel und die kaum dreijährige Angelika erstaunt gefragt, was denn nun Brötchen seien, von denen in dem Lesestück die Rede war. Krieg und Nachkriegswirren hatten es mit sich gebracht, daß sie nicht einmal dies zu deuten wußten. Auch am Heiligabend war Herta schon in aller Hergottsfrühe durch den neugefallenen Schnee zum Schebschen Berg gestapft, wo die anderen Waldarbeiter, alles Männer, schon um ein helles Feuer versammelt waren. Mit Arbeit wurde es an diesem Tag denn auch nicht viel, weil dauernd die Wodkaflasche kreiste, die die Männer richtig fröhlich stimmte. Sie redeten Herta zwar zu, auch einen Schluck zu trinken, aber sie lehnte ab, weil sie mit halbleerem Magen in den Wald gekommen war und den Alkohol bestimmt nicht vertragen hätte. Schon am frühen Nachmittag bestimmte der polnische Vorarbeiter, daß es Feierabend sei und man ging auseinander. Herta stapfte durch den tiefen Schnee zum Hermannshof, wo es in einer Schonung junge Fichten gab, von denen sie eine als Weihnachtsbaum abhaute und mit nach Hause nahm. So kam sie dort erst bei Anbruch der Dämmerung an und mußte zu ihrer großen Bestürzung von einem großen Unglück erfahren, das sich in der Zwischenzeit zugetragen hatte.

Christa und ihre um ein Jahr jungere Schwester Monika hatten sich auf Mutters Geheiß zur Jassener Mühle aufgemacht, die hinten in den Wäldern bei Wobbrow gelegen war, um dort einen Beutel Roggen, den Herta von einem mildtätigen Bauern bekommen hatte, gegen Mehl einzutauschen, von dem sie, so gut und so schlecht es möglich war, Kuchen backen wollte. Jetzt erfuhr sie, daß Angehörige der berüchtigten polnischen Geheimpolizei UB den beiden auf dem Rückweg auf der Lupow-Brücke bei Wobbrow das Mehl abgenommen und sie außerdem noch als "Niemcy" übel beschimpft und ihnen sogar Schläge angedroht hatten. Da standen nun ihre fünf Sprößlinge in der Stube, heulten buchstäblich Rotz und Wasser und Herta, von der schlimmen Nachricht überrumpelt, heulte im ersten Impuls verzweifelt mit. Was sollte nun werden? Womit sollte sie ihren Kindern jetzt eine kleine Weihnachtsfreude bereiten? Aber welche Mutter von fünf Kindern darf sich schon gehenlassen, wenn es darauf ankommt, für die Familie zu sorgen? Sie faßte sich wieder, wischte die Tränen fort und überdachte ihre Situation. Ausreichend hatte sie im Augenblick bloß noch Kartoffeln im Keller, und das bedeutete immerhin, daß sie nicht hungern mußten. Salz war auch noch ein bißchen da, zwar bloß rotes Viehzalz, aber daran waren sie ja längst gewöhnt. Schade nur, daß es mit dem Kuchen nun nichts wurde ...

Dann begann sie, gemeinsam mit ihren Kindern den Weihnachtsbaum aufzustellen und ihn mit dem zu schmücken, was noch vorhanden war. Da es eine Tanne war, die bis zur Decke reichte, fiel es nicht weiter auf, daß die Glasspitze fehlte. Sogar ein paar angeschlagene Kugeln hatten sich noch eingefunden, und Monika zauberte auch noch einige Äpfel herbei, die sie, stetig gegen Hunger und Gier ankämpfend, bis dahin im Keller aufbewahrt hatte. Als Christa dann auch noch ein paar Streifen Lametta auf die Äste hängte, sah der Weihnachtsbaum noch ganz manierlich aus.

"Jetzt koch' ich erst mal Kartoffeln zum Abendbrot", entschied Herta daraufhin und ging in die Küche, deren Fensterscheiben dick zugefroren waren. Sie machte im Herd Feuer und setzte einen Topf Kartoffeln auf, wobei ihr unablässig dicke Tränen über die Wangen liefen. Wie anders hatte sie doch die Heiligabende in ihrer Heimatstadt Stettin in Erinnerung! Als die Kartoffeln kochten, kehrte sie in die Stube zurück und sah erst mal nach ihren beiden Kaninchen und den drei Hühnern, die sie über alle Wirren hinweg gerettet hatte. Die Art der Unterbringung war teils wegen der bitteren Kälte und teils wegen der Diebe notwendig geworden. Abermals erschrak sie bis ins Mark, als sie feststellte, daß die drei Hähnchen nicht in ihrem Verschlag waren. Als sie sich entsetzt an ihre Kinder wandte, konnten diese sie jedoch beruhigen und Herta mußte zum erstenmal an diesem Tag herzhaft lachen, weil die drei Hennen nämlich im großen Weihnachtsbaum aufgeflogen waren und von dort aus mit runden Augen auf sie herunter sahen.

Christa war gerade dabei, die letzten drei Kerzenstümpfe anzuzünden, und der kleine Klaus sah ihr mit großen Kinderaugen aufmerksam dabei zu, als draußen vor dem Fenster Schritte im Schnee vorbeiknirschten und sich ziemlich rasch auf die Haustür zubewegten. Miliz! schoß es Herto da entsetzt durch den Kopf, und die weit aufgerissenen Augen der ältesten Mädchen verrieten, daß sie dasselbe dachten. Es wäre ja nicht das erstemal gewesen, daß Männer mit weiß-roten Armbinden abends auftauchten und sich an ihrer armseligen Habe bereicherten, ganz zu schweigen von ihren Anzüglichkeiten. Die Schritte verhofften an der Haustür einige Augenblicke, dann knarrte die Tür und jemand kam durch den Flur heran. Herta hielt den Atem an, als die Stubentür aufging und in ihrem Rahmen keine Miliz, sondern ein Weihnachtsmann erschien. Jawohl, ein richtiger Weihnachtsmann mit Bart, Kapuze und Fallendem Mantel. Er brummte etwas Unverständliches, bewegte sich dann zum Weihnachtsbaum und legte ein Paket nieder. Danach verschwand er ebenso unvermutet, wie er gekommen war. Herta kam erst wieder richtig zu sich, als die knirschenden Schritte irgendwo in der Nacht verstummt waren. "War das ein richtiger Weihnachtsmann, Mama?" fragte die kleine Angelika neugierig. Herta antwortete nicht, sondern hob gespannt das in Zeitungspapier gewicktelte Paket auf und faltete es auseinander. "Mein Gott!" entfuhr es ihr da. Und noch einmal: "Mein Gott! Aber das ist ja Fleisch! Und Butter ist auch dabei!"

Sie sah sich hilflos nach ihren Kindern um. Treffend druckte es die kleine Bärbel aus, die leise sagte. "Das hat uns bestimmt der liebe Gott geschickt." "Ja, Kinder, das kommt bestimmt vom lieben Gott".- sagte Herta mit tränenerstickter Stimme. Sie glaubte plötzlich wieder an das Gute im Menschen, aber auch daran, daß Gott in kritischen Lagen bestimmt hilft und keinen verläßt.

Wie froh sangen sie aller später "O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit" - und wie gut schmeckten ihnen die Pellkartoffeln mit Salz in der großen Vorfreude auf den Festtagsbraten am Weihnachtstag. Denn in einer der finstersten Stunden hatte der liebe Gott auch sie jenen Stern sehen lassen, der einmal den Weisen zu Bethlehem geleuchtet hatte.


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