Damals im Kreis Bütow. Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg © 1991-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
Wiederabdruck in: Georg Sonnenburg, "Damals im Kreis Bütow" Frankenberg 1991, S. 117-123


Die Saujagd

Rutz stand vor seinem Feld und zog die Stirn in krause Falten. Was sein umherirrendes Auge sah, erfüllte ihn mit hilflosem Grimm und haute ihn regelrecht um. Hatte er bisher an seinem Kartoffelfeld seine helle Freude gehabt, weil die Erdäpfel in diesem Jahr besonders gut gediehen und eine reiche Ernte versprachen, so war es damit jäh vorbei. Wie ein Sturzacker sahen die vorher schnurgerade gezogenen Furchen aus, und nur da und dort ragten noch ein paar armselige Strempel in die Luft, kärgliches Zeugnis davon gebend, was hier noch am Vortag das Auge mit Freunde und die Brust mit Stolz erfüllt hatte.

Eine Rotte Sauen hatte in der vergangenen Nacht ganze Arbeit geleistet und von den begehrten Kartoffeln der neuen Sorte "Erdgold" kaum etwas übriggelassen. Am schlimmsten traf es den alten Waldarbeiter, daß er mit den Schwarzkitteln bisher so etwas wie einen heimlichen Pakt, gewissermaßen einen "Nichtangriffspakt" geschlossen hatte, der eine ganze Zeit respektiert worden war. Und nun diese Bescherung! Es war einfach nicht zu fassen! Was mochte die vermaledeiten Borstenviecher veranlaßt haben, sich derartig ruchlos an seinem Hab und Gut zu vergehen? Immerhin fütterte er sie alljährlich zur Winterszeit mit Abfällen aller Art und hatte sogar dann und wann gedämpfte Wruken und Kartoffeln dazu gegeben. All das hatte er auf dem Altar der Rüsseltiere geopfert, in der vagen Hoffnung, sie damit von seinem Feld fernzuhalten. Bisher war das auch ganz gut gegangen, denn die Schwarzkittel hatten sich an den Äckern der Gebrüder Bacher aus Grünenwalde schadlos gehalten und dann und wann sogar dem Förster die Frühkartoffeln umgepflügt, was Rutz nicht ohne stille Schadenfreude beobachtet hatte. Doch jetzt... Die Augen des alten Mannes fällten sich mit Wasser, dicke Tränen kullerten ihm über die Wangen, die wie zerknülltes Pergamentpapier aussahen und versickerten in seinem Spitzbart, der ihm den Beinamen "wilder Ziegenbock" eingetragen hatte. Bei den weißen Mooren gab es sogar ein ganzes Jagen, das "Revier des wilden Ziegenbocks" hieß, weil Rutz dort mit Vorliebe seine Pfifferlinge sammelte und durch sein Äußeres schon mehr als einmal Kinder und alte Frauen erschreckt hatte.

Als er sich endlich umwandte und mit schleppenden Schritten heimwärts strebte, schien er ein uralter Mann geworden zu sein, in einer Viertelstunde buchstäblich um ein Dutzend Jahre gealtert. Allmählich wichen seine Bedrücktheit und stumme Verzweiflung schrecklichen Rachegedanken, und während er abwechselnd seinen Schnauzbart zupfte und seinen Zickenbart raufte, malte er sich in allen Einzelheiten aus, wie er die Schwarzkittel bestrafen würde. Dabei gab es für ihn von Anfang an keinen Zweifel daran, daß im vorliegenden Fall nur die Todesstrafe in Frage kam. Aber es war nicht so einfach, dem schwarzen Lumpengesindel beizukommen, weil die Äcker zwischen der Bahnstrecke und der Staatsforst jagdrechtlich zum Fiskus gehörten. Und auf Förster Borraß, der allmählich ja auch in die Jahre gekommen war, war in dieser Hinsicht wenig Verlaß. Es mußte folglich zur Selbsthilfe gegriffen werden.

Es schien ihm wie eine Fügung des Himmels, als ihm kurz vor dem Herrmannshof der olle Stoy aus Libienz begegnete, der in jungen Jahren ein passionierter Jäger gewesen war. Während Rutz ihn am Aufschlag seiner uralten Joppe festhielt und nervös am obersten Knopf herumdrehte, berichtete er stockend und von Weinkrämpfen unterbrochen von dem frevelhaften Tun der Wildschweine auf seinem Kartoffelfeld. "Do hebbe se din Vertrag denn jo wohl broke", meinte Stoy augenzwinkernd, setzte jedoch ernst hinzu: "Dat ken wi us nich gefalle lote, Ottoke, manich." Er sah sich wie ein Verschwörer nach allen Seiten um, ehe er hinzufügte: "Ick sett mi glick hüt nacht an, un denn sast ma seine, Ottoke, wi ick demm ull Bossel eis upbrenne dau." "Ick hebb mi all dacht, dat ick mi up di verlote kann, Willem", sagte Rutz erleichtert.

Die beiden Alten trennten sich mit einem Handschlag, der das Schicksal mindestens einer Sau besiegelte. Daß sie im Prinzip eine Wilddieberei verabredet hatten, kam ihnen gar nicht in den Sinn, da sie in ihrem Vorhaben so etwas wie Notwehr sahen.

Während Stoy waldeinwärts schritt, um seinen Vorrat an Kaddikwurzeln zum Körbeflechten aufzufrischen, strebte Rutz erleichtert zum Herrmannshof, wo er in seiner Wohnung erst mal eine ganze Flasche Wacholderbier trank, das er gegen sein Altersasthma braute. Dabei führte er ein so lebhaftes Selbstgespräch, daß seine Frau, die am Kochherd stand, ihm zweifelnde Blicke zuwarf.

Am nächsten Morgen weckte ihn schon in der berühmten Herrgottsfrühe mittelschweres Klopfen am Schlafstubenfenster. Aus dem Bett hochfahrend, gewahrte er draußen Stoys Willem, der im fahlen Licht mit geschulterter Flinte dastand und ein ganz bedeppertes Gesicht machte. "Anflickt hebb ick emm", murmelte er kläglich, als Rutz das Fenster aufgestoßen hatte. "Ower ligge mutt hei", fuhr er fort, "wi mutte emm nu blot noch Tied ge'we, dat hei verrecke deit." Als Rutz ein bedenkliches Gesicht machte, fugte er energisch hinzu: "Wenn ick di dat doch segge dau!" Er wartete keine Antwort ab, sondern marschierte in Richtung Grünenwalde davon.

Rutz sah ihm mit finsterer Miene nach und als er um die nächste Biegung verschwunden war, hatte er bereits einen Entschluß gefaßt. Er zog sich in Windeseile an und hastete in den Stall, aus dem er gleich darauf mit geschulterter Mistforke herauskam Ganz ohne Waffe wollte er sich nicht auf die Nachsuche begeben, denn angeschweißte Sauen können bekanntlich saugrob werden.

Den Anschuß auf seinem Feld fand er ohne besondere Mühe und die Schweißfährte war nicht zu übersehen. So betrat er mit stoßbereiter Mistforke den Kiefernwald, unter dessen Wipfeln noch die Morgendämmerung braute. Die Schweißfährte der angekratzten Sau konnte er aber auch hier im Moos deutlich verfolgen und sie führte zum Schebschen Berg, genauso wie Rutz es erwartet hatte. Bald stieg das Gelände steil an und mannshohe Kaddikbüsche, die wie unheilvolle Gnome aussahen, wechselten mit dichten Fichtengruppen ab, in denen unsichtbare Gefahren zu lauern schienen. Rutz bereute es plötzlich, sich unüberlegt in Gefahr begeben zu haben, und zu allem Überfluß erinnerte er sich auch noch daran, daß es auf dem Schebschen Berg spukte. Gerade wollte er die Forke auf die Schulter legen und klammheimlich kehrtmachen, als unter einer Jungfichte hervor grunzend und blasend ein mächtiges Hauptschwein auf ihn zusprang und kampfeslustig die Hauer wetzte, wobei ihm blutiger Schaum aus dem Gebräch tropfte. Mit stoßbereiter Mistforke parierte Rutz den ersten Angriff, wenngleich ihm auch die Knie zitterten und das Herz bis in den Hals hineinschlug. Schlimmer war noch, daß ihm auf einmal sein Asthma so stark zu schaffen machte, daß er nur noch röchelnd Luft kriegte. Der Basse gab ungefähr dieselben Geräusche von sich wie Rutz und war ein Stück zurückgewichen. Während er mit deutlichem Wetzton sein wehrhaft Gewaff schärfte, kam er mit gesenktem Haupt zum zweitenmal näher, dabei entnervend grunzend und den Pürzel streitlustig geringelt. Rutz wehrte zwar auch diesen Angriff bravourös ab, doch ihm klapperten vor Angst und Aufregung die Zähne so heftig, daß es sich anhörte wie Hagelkörner gegen Wellblech. Voller Sehnsucht dachte er an den heimischen Herrmannshof, den er so unbedacht verlassen hatte und in dessen schlitzende Mauern er sich nun hineinwünschte. Aber der Herrmannshof war weit, dafür der schreckliche Keiler um so naher und schon wieder kam er, das Gewaff gräßlich wetzend, näher, um dem Erbfeind die Beine aufzuschlitzen oder gar noch Schlimmeres anzutun. Rutz nahm alle ihm verbliebene Kraft zusammen und stieß dem Angreifer die Forkenzinken ins Gebräch, worauf dieser mit lautem Aufschrei abermals einen Rückzieher machte. Seine Kampfeslust schien sich dadurch aber nur noch gesteigert zu haben, denn beim nächsten Angriff schlug er die Mistforke mit einem metallischen Geräusch so heftig zurück, daß der alte Mann um ein Haar auf den Rücken gefallen wäre. Nach diesem Waffengang umkreisten sich die beiden Kontrahenten, der eine rasselnd nach Luft ringend und schon verdächtig blau im Gesicht, der andere grunzend und schnaubend, sich dabei gegenseitig bedauernd und nach einer Schwachstelle des Gegners ausspähend. In diesen nerventötenden Augenblicken, wo ihm der Angstschweiß in kleinen Sturzbächen über das faltenreiche Gesicht strömte, erinnerte sich Rutz auf einmal der Macht des Gebetes, der er seit seiner Konfirmandenzeit keinerlei Beachtung mehr geschenkt hatte. Er begann mit solcher Inbrunst zu beten, daß der Herr Pastor, sofern er ihn gehört, seine helle Freude an ihm gehabt hätte.

"Vater unser"" kam es zwischen japsenden Atemzügen unter seinem struppigen Bart hervor, "der du bist... ", er brach ab, um den sich vom Gebet wenig beeindruckten Bassen abzuwehren, und fuhr danach noch lauter als bisher fort: "...im Himmel, also auch auf Erden... !" Wieder mußte er von der Stichwaffe energisch Gebrauch machen und dem Keiler in die Parade fahren. Dabei verhaspelte er sich und fing wieder von vorne an: "Vater unser, der du bist... !" Erneut Stoß und Abwehr, Stich und Rückzug, Ausfall und Parade - so ging es hin und her, Rutz nicht über "also auch auf Erden" hinauskommend.

Allmählich näherte sich für den alten Mann der Erschöpfungszustand und er sandte immer dringlichere Blicke zum Himmel hinauf. In dieser allerhöchsten Not krachte plötzlich ein Schuß, und der Basse fiel tot ins Moos. Rutz hielt verwirrt nach dem Engel Ausschau, der ihn auf so wundersame Weise errettet hatte, aber er erblickte bloß ein Wölkchen hoch über sich. Da vernahm er dicht hinter sich knisterndes Reisig und drehte sich um. Vor ihm stand, die noch rauchende Flinte in der Hand, Stoys Willem, der spöttisch murmelte: "Kiek eis, Ottoke, kiek eis, du kast jo noch chanz gaud bede, dat mutt ick segge." Rutz nahm den Spott mit Gelassenheit. Er fragte auch nicht danach, wo Stoy auf einmal herkam, der ja eigentlich in seinem Bett hätte liegen müssen. Irgendwie war er sich darüber im klaren, daß der liebe Gott zumindest seinen kleinen Finger mit im Spiel gehabt haben mußte. Stoy verriet dann, daß er dem ungleichen Zweikampf schon eine ganze Weile zugesehen und sich dabei köstlich amüsiert habe. Sie brachen den Bassen auf, schleppten ihn gemeinsam in ein Dickicht und versteckten ihn dort, um ihn in der kommenden Nacht abzuholen. Danach verwahrte Stoy auch noch seine alte Flinte in einer Jungfichte und sie machten, daß sie aus dem Wald kamen. Allmählich bestand die Gefahr, daß Borraß auf tauchte.

Als einige Zeit verstrichen und genügend Gras über die Geschichte gewachsen war, gab Stoy eines Abends das Erlebnis in "Borks Krug" preis und erntete viel Gelächter. Rutz hörte mit süßsaurem Gesicht zu, weil er noch kein einziges Sterbenswörtchen darüber verlautbart hatte. Und das war gut zu verstehen, denn wer den Schaden hat, braucht bekanntlich für den Spott nicht zu sorgen.


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