Damals im Kreis Bütow. Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg © 1991-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
Wiederabdruck in: Georg Sonnenburg, "Damals im Kreis Bütow" Frankenberg 1991, S. 34-42


Unterm Fenster

Die Grünewalder Jugend war ihrer Zeit voraus, weit voraus sogar, denn sie hatte damals schon Fernsehen. Sie bezweifeln das, lieber Leser? Nun, ich räume ein, es war auch kein richtiges Fernsehen, wie wir es heute als "Flimmerkiste" oder als "Glotzkasten" kennen, was aber nicht sagen will, daß es weniger spannend gewesen wäre. Was das Grünewalder "Fernsehen" aller heutigen Television unbestreitbar voraus hatte, war seine lebendige Darstellung, denn es wurde dauernd "live" gesendet. Und an Spannung hat es diesen "live" gesendeten Handlungen niemals gemangelt. Im Gegenteil.

Allabendlich versammelte sich die Dorfjugend nämlich unter dem Fenster der Familie Lemm und guckte ungeniert zu, was sich dort so zutrug. Und ich muß gestehen, daß die Serien "Lindenstraße" oder "Schwarzwaldklinik" nur ein schwacher Abglanz dessen sind, was sich bei Lemms alles so ereignete.

Nun mag eingewendet werden, daß dies nicht der feinen Leute Art war. Sicherlich nicht, ich gebe es zu. Aber wir waren ja auch gar keine feinen Leute, und so mag man uns im nachhinein Absolution erteilen.

Lemms Paul wohnte mit seiner Frau Hulda ("Ist denn kein Stuhl da, für meine Hulda?"), seiner Tochter Erna und seinem Sohn Siegfried (Siechel) zu Untermiete in einem schönen alten Fachwerkhaus, das dem Bauern Braun in Bresinke gehörte. Da die Wohnung zur ebenen Erde gelegen war, bot sie sich für's "Fernsehen" geradezu an. Lemm hatte im Weltkrieg einen Lungenschuß erhalten und diese Verletzung niemals richtig auskuriert. Als dann noch eine Tuberkulose hinzu kam, lebte er nicht mehr lange. Doch das war erst später.

Ausbaldowert hatte die Sache mit Lemms mein Bruder Herbert. Er hatte irgendwann mitgekriegt, daß besagte Familie beim trauten Schein der Petroleumlampe beisammen hockte, und zwar bei nicht zugezogenem Fenster und daß sich in der Runde Begebenheiten zutrugen, die zumindest ansehenswert waren. Als er von einem handfesten Ehestreit der Lemms in epischer Breite den anderen halbwüchsigen Dorfjungen berichtete, war es beschlossene Sache, daß von jetzt an alle gemeinsam, Bresinker wie Grünewalder, unter dem Fenster des Frührentners dem dortigen Geschehen zuschauen Sollten. Und es gab immer etwas Interessantes zu sehen, bei dem alle Zuschauer voll auf ihre Kosten kamen. Zum einen war der Olle Lemm ein dreibastiger Kerl, der seine Familie auf alle mögliche Weise herumkommandierte und.schikanierte. Seine bessere Hälfte muckte zwar dann und wann auf und drohte ihm mit dem Kochlöffel Prügel an, doch dann gab er überraschend nach, so daß es niemals zu Handgreiflichkeiten gekommen ist. Weniger "wehrhaft" war da der Sohn Siechel, der ständig geschurigelt und hin und her gehetzt wurde, weil sein Vater stets irgendwelche Wünsche hatte. Dabei saß er meistens tief hinter seine "Zeitung für Ostpommern" verschanzt da, in der er schon den lieben langen Tag geschmökert hatte. Als gründlicher Mensch las er jede Zeile und jede Spalte sehr eifrig und eingehend, verschmähte weder Inserate noch "Vermischtes aus aller Welt" und konnte sich nicht genug über die große Politik ereifern, die nach seiner Auffassung in vielen Punkten änderungsbedürftig war. Immer wieder ließ er abends das Blatt sinken, sah seine Familienmitglieder der Reihe nach an und teilte ihnen teils zustimmend nickend, teils brummig und scheltend, das mit, was sich in den letzten Tagen in der Welt zugetragen hatte. Dabei regte ihn jedesmal aufs neue das fortwährende Kopfschütteln seiner Hulda auf, von dem er zwar genau wußte, daß es krankhaft war, das er aber dennoch als ablehnende Reaktion auslegte und deshalb entsprechend grob beantwortete. Gerade daraus ergaben sich immer wieder heftige Wortgefechte der Eheleute., die es den Zuschauern unteren Fenster besonders angetan hatten.

Das ging eine ganze Weile so gut. Es hatte im zeitigen Frühjahr angefangen, setzte sich den ganzen Sommer hindurch fort und hielt auch im Herbst noch an. Außerhalb des Lichtkreises der ohnehin nur spärlich leuchtenden, weit auf äußerste Sparflamme gedrehten Petroleumsfunzel, verfolgte ungefähr ein Dutzend junger Leute das Lemmsche Familienleben und kannte mittlerweile Aktion und Reaktion oft schon genau voraus. Doch dann kam jener Abend, der eigentlich schwarzer Abend genannt werden mußte, obgleich er wie alle anderen voller Kurzweil und Spannung begonnen hatte.

Lemms hatten von irgendwoher Apfel ins Haus bekommen und diese sorgfältig ausgesammelt. Lemms Paul gab sich mit solchen erniedrigenden Arbeiten niemals ab, schließlich war er es ja, der mit seiner - nicht gerade üppigen, aber dafür regelmäßigen - Rente den Schornstein rauchen ließ. Wie üblich die Tageszeitung studierend, die der Briefträger stets erst einen Tag danach im Ort ablieferte, hockte er am Tisch, während seine Frau Hulda, Erna und Siechel sorgfältig auswählten, welche Früchte sofort verzehrt und welche als Vorrat aufbewahrt werden sollten. Der nächste Winter kam bestimmt und er würde erfahrungsgemäß lang und kalt sein. Mit der großen Politik schien es wieder einmal nicht zum besten zu stehen, wie boshafte Bemerkungen hinter der "Zeitung für Ostpommern" in kurzen Abständen vermuten ließen. Einige Male lachte der Hausvater sogar höhnisch auf, was Kundigen als sein Höchstmaß an Mißbilligung bekannt war.

Endlich hatten die anderen Familienmitglieder die anstrengende Tätigkeit beendet. Um den nörgelnden Vater zu besänftigen, ihn womöglich sogar durch den Anblick leckerer "Hasenköpfe" oder bildschöner "Gravensteiner" und "Langsüßer" ein wenig aufzuheitern, hob Erna den Karton mit den Vorratsäpfeln auf und trug ihn ihm zu. Unglücklicherweise war der große Karton aber morsch, wie beinahe alles im Lemmschen Haushalt, weil einfach nichts weggeworfen wurde, was eventuell doch noch mal gebraucht werden konnte. Erna rief gerade freudenstrahlend "Kiek eis, Pappa, dis blie'we to Wiehnachte!" und Paul ließ neugierig die Zeitung sinken, als der feuchte Kartonboden nachgab und die schönen Äpfel allesamt auf die Dielen fielen, wo sie in alle Richtungen auseinanderkollerten. Mit Vorratshaltung war es damit Essig, daran gab es keinen Zweifel, und so sahen es auch Lemms Hulda, Erna und Siechel, die schreckerstarrt des Donnerwetters des Hausherrn harrten. Dieser hatte den Mund schon zu einer Schimpfkanonade geöffnet, als plötzlich vom Fenster her brüllendes Gelächter ertönte.

Lemms Paul hatte im Weltkrieg nicht umsonst das Eiserne Kreuz für erfolgreiche Schleichgänge erhalten, denn er überschaute die Situation augenblicklich und blies als erstes die Lampe aus. Als zweites gewahrte er draußen vor dem Fenster im Mondlicht die Luntrusse, die sich noch immer wiehernd die Bäuche hielten oder wie verrückt von einem Bein aufs andere sprangen. "Dat goht to wiet!" stellte Lemms Paul zornig fest und ordnete an, daß von Stund an sämtliche Fenster in der Wohnung, sofern dahinter Licht angezündet wurde, mit Decken verhängt wurden. Ihm schwante nämlich, daß die Dorfjungen diesen Frevel nicht das erstemal begangen hatten.

Nun wird jedem verständnisbereiten Menschen einleuchten, daß dies der Dorfjugend gar nicht gefiel, als sie sich am nächsten Abend zu gewohnter Stunde bei Lemms unterm Fenster erwartungsvoll versammelt hatte. "Wat issen dat?" fragte Brauns Walter betroffen und sah seinen Bruder Erich, der allgemein Mostrich geheißen wurde, mit schief gehaltenem Kopf an. Ihm stand die herbe Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, auf das gewohnte "Fernsehen" verzichten zu müssen.

"Ick glöw, do mutt wi uns wat infalle lote", resümierte Bachers Eugen, während sein Bruder Reinhard sich mehr im Hintergrund hielt. Als Pennäler hielt er sich stets für was Besseres. "Ober wat?" murmelte Stoys Rudi verdrossen. Da war es wieder einmal Bachers Werner, dieser Pfiffikus, dem die rettende Idee kam. Ihm war nämlich nicht verborgen geblieben, daß die uralte Decke oben durchhing und dadurch das Fenster nicht ganz verschloß. Er rannte blitzschnell mit Sonnenburgs Gerhard davon und beide kehrten keuchend schon kurze Zeit später zurück, in den Händen eine mittelgroße Leiter, die neben dem Fenster an die Wand gelehnt wurde. "Wat segg ji nu?" fragte Werner triumphierend. Alle umringten ihn und klopften ihm anerkennend auf die Schulter, und das hatte er auch verdient, hatte er doch den "Fernsehabend" noch einmal gerettet. Von nun an lösten sich die Jungen auf der obersten Leitersprosse ab beim Gucken, damit jeder zu seinem Recht kam. Lemms waren sich indes vollkommen sicher, daß ihr Intimleben wieder gewahrt wäre und gaben sich ungehindert familiärem Tun hin, das den Jungen soviel Pläsier bereitete.

Das ging abermals einige Wochen gut, bis der olle Lemm an einem hellen Vollmondabend plötzlich Bauchgrimmen verspürte, das von zu reichlichem Lorchelgenuß herrührte und das ihn zu einem späten "Spatengang" zwang. Sein Verschwinden aus der Stube hätte Bachers Reinhard und Brauns Erich auf der Leiter eigentlich warnen müssen. Da sie aber gerade intensiv in die Betrachtung von Lemms Erna vertieft waren, an der ihre Mutter soeben Messungen für einen neuen Schafwollpullover vornahm, wobei sich die gefälligen Rundungen ihrer weiblichen Proportionen besonders deutlich abzeichneten, hatten die begreiflicherweise bloß noch dafür Augen. Und weil beide ihre Beobachtungen nur bruchstückhaft nach unten weiter gaben, herrschte am Fuße der Leiter ein direkt beängstigendes Gedränge, weil plötzlich alle zugleich nach oben wollten.

Lemms Paul hatte unterdessen sein Haus durch die Hintertür verlassen und strebte sonder Eile, wie es seine Art war, dem bekannten Häuschen mit Herzchen zu. Auf einmal blieb er mitten auf dem Hof ruckartig stehen und rieb sich verdutzt die Augen, denn was er sah, verstärkte seine Bauchgrimmen noch beträchtlich und trieb ihm zugleich Zornesröte ins Gesicht. Hastiger als zuvor bewegte er sich zum Häuschen und verschaffte sich erst mal Erleichterung, obwohl es ihm in allen Fingern krabbelte, die Jungens zu vertobaken. So zog er schon vorsorglich den Schmachtriemen aus der Hose den er für strafende Zwecke zu verwenden gedachte.

Als er das Häuschen verließ, beobachtete er mit grimmiger Freude, daß das Gedrängel unter seinem Fenster noch anhielt und daß auf der Leiter am Fenster jetzt sogar drei Luntrusse balanciertten. "Teif ma, ick war juch!" knirschte er und trabte mit dem Leibriemen in der Rechten auf die Frevler zu.

Diese hatte die Gier auf Ernas Proportionen regelrecht blind und taub gemacht für alles andere, und so wurden sie von Lemms Paul vollkommen überrumpelt. Erst als die Riemenschnalle schepper und klappernd über Rücken und Köpfe fuhr und laute Schreie Erfolg verrieten, drehten sich die Jungen erschrocken um und sah sich Aug in Aug dem zürnenden Hausherrn gegenüber, der ununterbrochen weiter aus der "Armenkasse" austeilte und dabei hinschlug, wohin es gerade traf. Dabei kriegten die drei auf der Leiter das meiste ab, nämlich Brauns Walter, Rosins Willi und Rutzen Armin, letzterer mitten im Absprung sogar auf die nackten Beine, was er mit brüllendem Schmerzensschrei und Lemm mit zufriedene Grunzen quittierte.

Die Dorfstraße lag von einem Augenblick zum anderen wie ausgestorben da, nur in einiger Entfernung stand Franz Herrmann, sein Töchterchen Eva-Maria an der Hand, und kratzte sich schmunzelnd den Hinterkopf. Er hatte dem frohen Treiben der Jungschar an Lemms Fenster schon eine ganze Weile zugesehen. Jetzt machte er, daß er mit Evchen ins Haus kam. Er wollte mit der Geschichte nichts zu tun haben. Lemms Paul horchte noch eine ganze Weile in die Runde, doch da alles still blieb, kehrte auch er zu seinen Lieben zurück. Den Denkzettel würden sich die Unnosels merken, da war er ganz sicher.

Und er behielt mit seiner Annahme recht, denn von jetzt ab hörte das frevelhafte Treiben unter Lemms Fenster für immer auf. Ein Nachspiel hatte die Sache dann aber doch noch, und damit hatte Lemms Paul nicht gerechnet. In einer der nächsten Nächte, als ein böiger Wind um die Ecken fauchte, schmissen ihm die Unnosels seinen Lokus um, und alles sorgfältig im Innern auf Nägel gespießte Zeitungspapier flog durch die Gegend und verunzierte am nächsten Morgen die ganze Feldmark bis hinauf nach Eichenau.

Brauns Albert, dem diese Ländereien gehörten, nieste vor Ärger erst ein paarmal, als er den Schaden bemerkte und lief dann zu Lemms, um ihnen gehörig den Marsch zu blasen. So sah man denn eine Weile später die ganze Familie Lemm einträchtig über die Felder streifen und das herumgewehte Zeitungspapier zusammensammeln. Diesmal beteiligte sich sogar der Hausvater daran, weil der erzürnte Braun ihm mit dem "Gendarm" gedroht hatte.

Als Lemms nach getaner Arbeit zurückkehrten, begegneten sie Bachers Reinhard und Eugen und Polzins Fritz, die so merkwürdig hämische Gesichter machten, was Erna und ihr Brunder Siechel gar nicht begreifen konnten. Die hatten den Jungs doch nichts getan. Lemms Paul aber blickte demonstrativ in die andere Richtung, weil er den Grund für diese "Häme" ahnte. Seine Hand zuckte zwar wieder nach dem Schmachtriemen, aber er bezwang sich. Am helllichten Tage konnte er die Bengels schlecht verwelken, und außerdem stand die Partie jetzt 1:1, und so sollte sie auch bleiben.


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